Unter dem Überbegriff Erythema multiforme (EM)-Komplex ist eine Gruppe von seltenen immunmediierten Erkrankungen bei Hund und Katze zusammengefasst, bei der eine zytotoxische T-Zell-vermittelte Zerstörung von epidermalen Keratinozyten zu Vesikeln, Ablösungen und Ulzera in der Haut und den kutanen Schleimhäuten führt. Die Klassifikation dieser Erkrankungen ist komplex und wird teils kontrovers diskutiert. Jedoch unterscheidet man je nach Umfang der beteiligten Haut- und Schleimhautoberfläche zwischen EM minor, EM major, Stevens-Johnson syndrome (SJS) und toxic epidermal necrolysis (TEN). Die genaue Pathogenese EM bei Haustieren ist unklar, aber es wird eine Aktivierung der T-Lymphozyten durch virale Antigene oder Medikamente vermutet, die eine Erkennung und Destruktion von Keratinozyten zur Folge hat.
EM in der Humanmedizin
In der Humanmedizin wurde EM (minor) bereits 1860 von Ferdinand von Hebra beschrieben. Es handelt sich in der Regel um eine selbstlimitierende akute Hauterkrankung, die durch „target lesions“ (Zielscheiben-Läsionen) charakterisiert ist, die vor allem die Gliedmaßen betreffen. Während bei EM beim Menschen in der Regel eine infektiöse Pathogenese besteht (Herpes simplex, Mycoplasma pneumoniae), handelt es sich bei SJS/TEN in den meisten Fällen um eine adverse Medikamentenreaktion. EM minor hat meist einen milden klinischen Verlauf. Bei SJS/ TEN und TEN handelt es sich um dermatologische Notfälle, die eine aufwändige intensivmedizinische Behandlung erfordern.
1993 wurde eine international anerkannte einheitliche Klassifikation zur objektiven Differenzierung zwischen TEN, SJS und EM entwickelt (Tabelle 1). In der Humanmedizin gibt es zwei international anerkannte Richtlinien für die Behandlung von SJS, für EM existiert bisher kein solches Dokument. Bei der Behandlung von SJS/TEN steht zum einen das Absetzen des ursächlichen Medikamentes im Vordergrund sowie bei Patienten mit umfangreichen Hautablösungen eine intensive unterstützende Therapie. Der Einsatz von immunsuppressiven Medikamenten ist weiterhin umstritten und stellt, insbesondere bei intubierten Patienten mit zentralen Zugängen, ein Abwägen zwischen einem erhöhten Sepsis-Risiko und der Möglichkeit, weiteres Fortschreiten von Hautablösungen zu verhindern, dar. In der Literatur zeigt sich jedoch die Tendenz, dass eine Behandlung mit Ciclosporinen die Mortalitätsrate reduziert und eine Progression der Hautablösungen reduziert.
Bei TEN handelt es sich sowohl in der Human- als auch in der Tiermedizin um eine schwere Erkrankung, die auch bei intensiver Therapie mit einer hohen Mortalität einhergeht. In der Humanmedizin kann anhand des Scoring-Systems nach Scorten eine prognostische Aussage bezüglich des Mortalitätsrisikos getroffen werden. Während ein niedriger Score (0-1) mit einer niedrigen Mortalität von 3,2% korreliert, liegt das Mortalitätsrisiko bei einem Score von > 4 bei über 90% (Tabelle 2). Ein Teil der prognostischen Faktoren (z. B. Herzfrequenz, Harnstoff) sind in der Tiermedizin nicht evaluiert. Interessanterweise zeigen in der Humanmedizin pädiatrische Patienten eine deutlich niedrigere Mortalität als Erwachsene. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass die Mortalität bei Hund und Katze mit dem Ausmaß der betroffenen Körperoberfläche korreliert.
Tab. 1: Konsensusdefinition schwerer blasenbildenden Hautreaktionen (Humanmedizin)
Kriterium | EM minor | EM major | SJS/TEN overlap | TEN mit Makulae | TEN ohne Makulae |
Hautablösungen | <10% | <10% | 10-30% | >30% | >10% |
Zielscheiben-Läsionen | typisch oder atypisch | atypisch | atypisch | atypisch | atypisch |
Erhabene Läsionen | ja | nein | nein | nein | nein |
Verteilung | v.a. Gließmaßen | v.a. Rumpf | v.a. Rumpf | v.a. Rumpf | v.a. Rumpf |
Progression zu TEN | nein | möglich | möglich/wahrscheinlich | – | – |
Tab. 2: Scoring-System nach Scorten (Humanmedizin)
Kriterium | Punkte |
Alter >40 | 1 |
Herzfrequenz >120 | 1 |
zugrunde liegende maligne Tumorerkrankung | 1 |
Hautablösungen >10% am ersten Tag | 1 |
Harnstoff >10 mmol/L | 1 |
Hautablösungen >10% am ersten Tag | 1 |
Bicarbonat <20 mmol/L | 1 |
Serum Glukose >14 mmol/l | 1 |
Scorten-Score | Mortalitätsrisiko |
0-1 | 3,2% |
2 | 12,1% |
4 | 35,8% |
4 | 58,3% |
>4 | >90% |
EM bei Hund und Katze
Bei EM handelt es sich um eine seltene Hauterkrankung, die laut einer Studie an einer amerikanischen Universitätsklinik 0,4% der dermatologischen caninen und 0,11% der felinen Patienten betrifft. Die Inzidenz von SJS/TEN und TEN ist nicht bekannt.
Während beim Menschen der Nachweis von typischen oder atypischen target lesions für eine Diagnose von EM erforderlich ist, sind klassische Zielscheiben-Läsionen bei Hund und Katze nur bei einer Minderheit der Fälle zu finden. EM hat eine variable klinische Präsentation, ist aber häufig von bilateral symmetrischen maculopapulären Eruptionen charakterisiert, welche vor allem die Axilla und Leistengegend, die Maulschleimhaut, die Pinna und Fußballen betreffen. Es handelt sich um schmerzhafte Hautveränderungen ohne Juckreiz. Während EM beim Menschen stark mit Herpes-simplex Infektionen (HSV) assoziiert ist, scheinen in der Tiermedizin ursächlich adverse Medikamentenreaktionen zu dominieren. Zahlreiche unterschiedliche Medikamente, u.a. Antibiotika (z. B. Chloramphenicol, Enrofloxacin), Antiparasitika (z. B. Ivermectin, Moxidectin, Levamisol), aber auch Shampoos (z. B. Benzoylperoxid) können als Auslöser von EM beim Hund in Betracht kommen (Fallbespiel Abbildungen 1 und 2). Als infektiöse Trigger sind u.a. Analbeutelentzündungen, Pneumocystis-Infektionen, aber auch Herpes- und Parvovirus-Infektionen bekannt. Bei der Katze kann EM im Zusammenhang mit feliner Herpesvirusinfektion (FHV-1, Abbildung 3) oder adversen Medikamentenreaktionen beobachtet werden. Des Weiteren können Tumorerkrankungen zugrunde liegen und bei der Katze stellt möglicherweise die Thymon-assoziierte exfoliative Dermatitis eine Form von EM dar. Bei einem signifikanten Anteil der Patienten kann kein Auslöser identifiziert werden und die Erkrankung wird als idiopathisch angesehen.
Da die in der Humanmedizin als pathognomonisch angesehenen Zielscheiben-Läsionen in der Tiermedizin oft nicht auftreten, erfordert eine Diagnose von EM neben einer gründlichen Anamnese einschließlich vorausgegangener medikamentöser Therapie und den klinischen Befunden auch eine pathohistologische Untersuchung. Das pathohistologische Bild von EM ist charakterisiert durch transepidermale Keratinozyten-Apoptosen mit lymphozytärer Satellitose, begleitet von einer lymphohistiozytären Grenzzonen-Dermatitis und Ulzerationen (Abbildung 4).
Die Therapie von Erkrankungen des EM-Komplexes richtet sich vor allem nach dem Schweregrad und dem Ausmaß der Veränderungen.
Milde Verläufe von EM minor können selbstlimitierend sein, während EM major und SJS/TEN bzw. TEN teils intensivste unterstützende Therapie erfordern. Grundsätzlich sollte versucht werden den Auslöser zu finden und, sofern möglich, zu entfernen (z. B. Absetzen von Medikamenten, die im Verdacht stehen der Auslöser einer adversen Reaktion zu sein). Sofern der Auslöser eliminiert werden kann, heilen die Hautläsionen von EM-Patienten, die in Folge einer adversen Medikamentenreaktion aufgetreten sind, ohne begleitende immunmodulatorische Therapie im Laufe mehrerer Wochen ab. Wenn die Ursache des EM nicht identifizierbar ist oder der Schweregrad der Erkrankung es erfordert, können auch Immunsuppressiva wie z. B. Glukokortikoide, Azathioprine und Ciclosporine eingesetzt werden. Eine weitere kostenintensive Therapieoption stellen intravenöse Immunglobuline (IVIG) dar. Neuere Daten aus der Humanmedizin zeigen jedoch, dass IVIG zumindest bei erwachsenen Patienten keinen signifikanten Einfluss auf die Mortalitätsrate bei TEN hat.
Die Behandlung von SJS/TEN overlap und TEN stützt sich auf 3 Grundprinzipien:
- Absetzen von Medikamenten, die im Verdacht stehen der Auslöser zu sein, bzw. Korrektur der zugrunde liegenden Ursache wie z. B. bakterielle Infektionen.
- Korrektur von Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt.
- Prävention von Wundinfektionen und Sepsis aufgrund der Hautablösungen und Ulzera.
Weiterhin sollte versucht werden mittels immunmodulatorischer Therapie ein Fortschreiten der Hautablösungen zu vermindern. Dieser therapeutische Aspekt wird weiterhin kontrovers diskutiert, da eine solche Therapie möglicherweise das Risiko einer Sepsis erhöht. Daten aus der Humanmedizin belegen, dass Ciclosporine die Mortalität von Patienten mit TEN reduzieren. Die Hemmung der T-Zell-Funktion über den calcineurin-phosphatase pathway scheint dem zugrunde zu liegen.
Erkrankungen des EM-Komplexes sind eine diagnostische und therapeutische Herausforderung, bei der die pathohistologische Untersuchung einen wichtigen Anteil an der Diagnosestellung hat. Unser klinisches und dermatopathologisches Team steht gerne bei komplexen Hautfällen zur Seite.
Ines Hoffmann