Saale-Zeitung, 21.03.2019
Projekt „Mensch inklusive“: Zurück ins echte Leben
Die Initiative „Mensch inklusive“ will vernetzen und helfen, Frauen und Männern mit Handicap eine Arbeit zu verschaffen, die mehr ist als nur ein Job.
Die Handgriffe, die er heute macht, wären vor 15 Jahren noch unmöglich gewesen. Bei einem Motorradunfall verletzte sich Thomas Gensler schwer. Fünf Wochen und einen Tag lang lag er im Koma. Danach lernte er alles neu. Dass er einmal wieder jeden Tag zur Arbeit gehen würde, dachte niemand. „Seelenfrieden“ gibt ihm der Job, sagt der 33-Jährige heute. Laboklin, die Kissinger Firma, bei der er vor zehn Monaten seinen ersten Arbeitstag hatte, macht bei einem besonderen Projekt mit. „Mensch inklusive“ heißt die Initiative der Lebenshilfe Schweinfurt. Das Projekt soll helfen, behinderten Menschen eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu verschaffen.
„Menschen mit Behinderung werden oft immer noch auf ihre Behinderung reduziert“, sagt Peter Pratsch. Höchste Zeit also für die Aktion „Mensch inklusive“ der Lebenshilfe Schweinfurt. Peter Pratsch leitet das Projekt. Das sei auch deshalb so wichtig, „weil die Werkstätten nicht für jeden etwas sind“. Dabei sollten alle ein Arbeitsfeld finden, in dem man sich wohlfühlt, meint er. Bis es soweit kommt, heißt es: beschnuppern.
Stefan Kohlhepp hilft beim Kennenlernen und hält Händchen beim Herantasten. Er ist als sogenannter Inklusionsberater der Lebenshilfe Ansprechpartner für alle. Am Anfang dauert es etwas, bis sich alle aufeinander einstellen, erzählt er. „Besonders, wenn das Personal noch keine Erfahrung mit Behinderten hat.“ Seine Empfehlung für ein lockeres Miteinander: „Einfach so annehmen wie es ist.“ Dass das freilich nicht immer so leicht ist, zeigt sich im Alltag.
Bewusster miteinander umgehen
Woran hackt’s? Menschen mit einem Handicap fehlt es manchmal an Selbstständigkeit, meint er. Außerdem: einiges dauert länger, die Einarbeitung braucht Zeit. Anderen liegt der Smalltalk nicht. Jede Woche stattet Stefan Kohlhepp den Betrieben, die beim Projekt mitmachen, einen Besuch ab. Freilich, es gibt auch mal Rückschläge. Sein Job: immer wieder motivieren und bestärken.
Letztlich gilt für ihn: „Der Arbeitgeber muss offen sein und eine Belegschaft muss mit den Einschränkungen klarkommen, so wie sie mit den Eigenheiten von jedem Menschen klarkommen muss. Jeder hat seine Macken, ob mit oder ohne Behinderung. Die Menschen ohne Behinderung funktionieren einfach besser.“
Verändert sich der Arbeitsalltag, wenn ein Mensch mit einer Behinderung Teil des Teams wird? Dr. Elisabeth Müller, Firmen-Chefin von Laboklin meint: „Die Gruppe hat eine andere Dynamik erlangt. Klar, wir müssen immer soziale Kompetenz zeigen, aber jetzt besonders. Man geht bewusster miteinander um.“ Ihr Personal profitiert auch indirekt, meint sie und bestätigt die Beobachtungen von Inklusionsberater Stefan Kohlhepp. „Dieser Mensch hat eine andere Wertschätzung gegenüber seinem Arbeitsplatz“, sagt Elisabeth Müller. „Die Mitarbeiter zeigen eine unheimliche Freude“, meint Stefan Kohlhepp. „Das überträgt sich aufs andere Personal.“
Gute Laune inklusive
Es ist diese aufrichtige Ehrlichkeit, die Margarete Hein an Thomas Gensler so beeindruckt. Die 56-Jährige leitet den Versand, die Abteilung, in der Thomas Gensler arbeitet. Adressen aufkleben, Info-Mappen falten, Probe-Röhrchen vorbereiten: Er sei das „Nachschub-Männle“, sagt Thomas Gensler über sich und lacht. „Die Arbeit ist simpel, wird aber zu schätzen gewusst, weil sie wichtig ist.“ Margarete Hein will den 33-Jährigen in ihrer Abteilung nicht missen. „Er kommt mit guter Laune rein, er hat einen tollen Humor, bringt Sprüche: Thomas heitert uns auf.“ Klar, nirgends ist die Stimmung immerzu frei von Wolken. „Wir müssen geduldig sein, er muss geduldig sein“, sagt Margarete Hein. Es brauchte seine Zeit bis sich alle aufeinander eingestellt hatten. Für Thomas Gensler bedeutet die Arbeit hier mehr als einen Job.
„Raus aus Schutzzone“
„Zugehörigkeit“, ein Wort, das für den 33-Jährigen voller Lebensqualität steckt. „Ich arbeite nicht, um beschäftigt zu sein. Ich werde gebraucht.“ Durch die Aufgabe in dem Unternehmen habe er sich auch persönlich weiterentwickelt, meint er. Fünf Jahre lang hatte er vorher in den Werkstätten der Lebenshilfe gearbeitet. „Die Werkstatt ist für Menschen mit geistiger Behinderung ein Segen.“ Thomas Gensler wollte mehr: raus „aus dem Schutzkreis ins echte Leben“, sagt er. Bis heute hat er sich einen guten Ruf erarbeitet: gewissenhaft, ehrgeizig und konzentriert erledige er seine Arbeit, meint Margarete Hein.
Laboklin ist eines von mehreren Unternehmen im Landkreis, dem die Lebenshilfe Schweinfurt jetzt mit einer „Qualitätssiegel“-Plakette für deren Engagement dankte. Die Schweinfurter Lebenshilfe kooperiert inzwischen mit Partnern aus den Landkreisen Schweinfurt, Rhön-Grabfeld und Bad Kissingen: Gemeinden, Betriebe, Verbände. 63 Menschen mit Behinderung arbeiten im Rahmen der Initiative in „ganz normalen Betrieben“.
Bereicherung für alle
Wie geht es weiter? Die Laboklin-Firmenleiterin Elisabeth Müller überlegt, einen weiteren Arbeitsplatz anzubieten. „Ich bin von der Idee überzeugt.“ Margarete Hein ist überzeugt von ihrem Mitarbeiter und Kollegen: „Thomas ist heute noch eine Bereicherung für unseren Betrieb.“ Und für Thomas Gensler ist der Job eine Bereicherung: „Das hat mich echt vorangebracht.“